010 Kind Nummer Zehn (oder 11)
Ich bin das zehnte Kind. Kein Witz. Meine Mutter hat sogar eine Auszeichnung von Franz Josef Strauß gekriegt. Für Kinderreichtum. Und Aschaffenburg, wo ich herkomme, ist tatsächlich Bayern. Ganz oben, aber Bayern.
Meine Mutter war 41, als sie mit mir schwanger wurde.
Und ich hab eine ganze Palette an Geschwistern – insgesamt neun vor mir (vom Alter absteigend sortiert):
0. Ein Mädchen, M. Fehlgeburt. Meine Schwester S erinnerte mich gerade an dich. (Schwester S, was für ein Telefonat gerade wieder... wir reden nicht oft aber dann so intensiv das ich Mose und Flechten durch die Wände wachsen sehe [versteht nur eine absolut pragmatische Kräuterhexe])
1. R, Bruder, musikalisch multibegabt, mittlerweile verstorben
2. F, Bruder, klug, Trompete ist sein Hobby und Windsurfen, klug, aber seltsam
3. Ho, Bruder, Wutbrocken, stur genug um anderen zu schaden, mittlerweile verstorben
4. Jo, Bruder, mit 11 bei Unfall verstorben
5. Th, Bruder, mit 1,5 Jahren an Hirnhautentzündung gestorben
6. E, Bruder, der genauste Mensch seit Erfindung der Taschenuhr, Preuße und Spaßvogel in einem, quasi mein Ersatzvater
7. T, Schwester, Italien verrückt, lernt die Sprache seit 30 Jahren, stilvoll, klug, feminin, eiskalt wenn nötig
8. J, Bruder, schwierige Vergangenheit, heute 5 Kinder, verheiratet, Haus, akademischen Abschluss nachgeholt
9. S, Schwester, 8 Jahre älter als ich, Konzentrat, komm ihr nicht quer und sie ist der beste Freund der Welt
10. Meiner Einerkeit, nicht-binäres Geschwister, doof, spinnert, laut, irgendwie mögen sie mich trotzdem
11. H., Schwester, 1 Jahr 3 Wochen und 5 Tage jünger als ich, hochgradig grammatikaffin, die das Wort Powerfrau hasst (weil ihre innere Feministin schreit es man sage ja auch nicht "Powermann"), Hund, Haus, Partner, Selbstständigkeit und 3 Kinder... ähhh ja die Reihenfolge war zufällig, aber ich hab immer Angst was zu vergessen, also lass ich es so...
Niemand hatte mehr mit einem Kind gerechnet. Aber meine Mutter hat sich entschieden. Eine Abtreibung? Kam für sie nicht in Frage. Nicht weil sie Angst gehabt hätte – sondern weil es gegen ihre Ethik war die evangelisch-lutherisch geprägt war: nüchtern, konsequent.
Mein Vater war Atheist. Nicht getauft. Für meine Mutter ist er konvertiert. Das hat in unserer Gegend für Aufsehen gesorgt. Und bei den Großeltern mütterlicherseits nicht gerade für Begeisterung. Kein Glaube, kein Land. Ein Bauer ohne Acker
Die Geburt war schwer. Meine Mutter erzählt bis heute davon. Ein Arzt hatte ihr eingeredet, ich sei wahrscheinlich behindert. Vielleicht ein Wasserkopf. Vielleicht gar nicht lebensfähig. Ich weiß nicht, was er wirklich gesagt hat – aber meine Mutter sagt, er habe ihr ständig Angst gemacht.
Dann kam ich. Alle Werte: zehn, zehn, zehn. Meine Mutter ließ ihn aufwecken. Noch mal testen. Alles gut.
Mein Vater hatte seinen Arm schon verloren, als ich kam. Das war Jahre vorher passiert, als meine Mutter mit S schwanger war. Trotzdem hat er noch seinen Meister gemacht. Mich hat er sein „Meisterstück" genannt.
Ich war ein Strahlekind. Das sagt man so. Ich hatte ein Pfannkuchengesicht. Ich hab gerne gegessen. Fettig, salzig, süß, fränkisch, orientalisch, italienisch. Hauptsache viel. Und ich bin auf Schafen geritten. Hab beim Scheren geweint.
Meine kleine Schwester H kam ein Jahr nach mir. Wir waren ein Gespann. Feuer und Eis. Pech und Schwefel. Eine dieser Geschwisterverbindungen, wo Leute Angst kriegen, dass wir uns gegenseitig umbringen, und dann sehen, dass wir uns trotzdem lieben.
Meine ersten Lehrer*innen aber waren meine älteren Geschwister. S und T wollten unbedingt, dass ich früh rede. Angeblich hab ich mit acht Monaten angefangen. Ganze Sätze. Und J, mein Bruder hat mir das Rechnen beigebracht – allerdings untereinander. Nicht so wie in der Schule am Anfang. Das wurde später noch ein Problem. Ich konnte es anders nicht mehr lernen.
Ich war ein Kind, dem man viel zugetraut hat. „Die Anne kann das." Immer. Und ich dachte, das wäre Liebe. Oder Respekt. War es auch. Aber es war auch Last.
Noch bevor ich in die Schule kam, passierte es dann. Wir waren oben am Garten. Grillen. Jwar wütend, hat geschimpft über unsere Mutter. Ich hab angesetzt, sie zu verteidigen. „Aber die Mutti ist doch..." Und J hat nur gesagt:
„Hör mir auf mit der lieben Mutti."
Das war der erste Kratzer. Kein Riss. Noch nicht. Aber was bleibt, ist meistens leise.
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