009 ZZ Top hat mein Leben gerettet
Vorweg: Meine Erinnerungen an diese Zeit sind stellenweise verschwommen. Einerseits wegen der psychischen Belastung, andererseits ganz banal – ich stand unter starkem Einfluss von Tavor.
Es war 2009, kurz nach meinem ersten Suizidversuch. Ich kam auf die geschlossene Psychiatrie – eine Station, auf der ausschließlich weibliche Personen untergebracht waren, laut Ausweis. Ich habe dort auch trans Frauen kennengelernt, aber nur, wenn sie amtlich als weiblich eingetragen waren, Deutschland halt. Und ja, ich glaube, das hat etwas an der Stimmung auf der Station verändert, dass keine Männer da waren. Vielleicht weniger Aggression, weniger Testosteron-Aufladung, ich weiß es nicht genau – aber es war ein anderer Ton.
Was ich aber sicher weiß: Diese Station war kein Horrorfilm. Keine Gummizellen, keine Zwangsjacken. Fixierungen gab es damals noch öfter als heute, aber auch das war kein sadistisches System. Es war ein überfordertes. Eine durchbürokratisierte Krankenhauseinheit mit zu wenig Personal und zu viel Alltag im Ausnahmezustand. Nicht angenehm, aber auch nicht die Hölle.
Trotzdem: Man hat nichts zu tun. Absolut gar nichts. Manche Patientinnen konnte man in Gespräche verwickeln, manche waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, andere waren – bei aller Vorsicht – einfach belastend. Und wenn du niemanden findest, mit dem du reden kannst, sitzt du da. Stunde um Stunde. Tag für Tag. Und drehst irgendwann durch.
Musik hätte mir geholfen. Aber ich hatte nichts. Keine Kopfhörer, keinen Player. Und Musik ist mir wichtig. Gerade, wenn es mir schlecht geht. Musik ist für mich wie eine zweite Haut, ein Schutzraum. Und ich hatte nichts.
Dann kam H mich besuchen – meine Schwester – mit ihrem damals noch recht neuen Freund M. Ich kannte ihn nur flüchtig, wir kommen alle aus demselben Dorf, aber viel miteinander zu tun hatten wir nie. Doch H kannte mich gut genug, um M zu sagen, welche Musik ich mag. Und er – M – kam tatsächlich mit einem MP3-Player. Kopfhörer. Musik. Und zwar richtig.
Ich weiß nicht mehr genau, was alles drauf war. Aber ich weiß: Da war ZZ Top. Mehrere Alben. Vielleicht sogar die komplette Diskographie. Dazu AC/DC, Black Sabbath, Alice Cooper, Hard Rock und Metal aus den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern. Vielleicht nicht alles meine erste Wahl – M ist mehr der Mettler als ich – aber ZZ Top hat gesessen. Dieser entspannte Groove, diese Lässigkeit, diese alten Herren mit ihren Bärten, die nicht schreien, sondern einfach spielen. Selbst wenn die Texte manchmal ein bisschen daneben waren – diese Musik hat mich geerdet. Sie hat mich gehalten.
Ich weiß bis heute nicht, ob M bewusst ZZ Top ausgewählt hat oder ob es einfach reingerutscht ist. Ich hab ihn nie gefragt. Heute kenn ich ihn viel besser. Sie haben Kinderleins, ein Haus, einen Hund – lauter solche Familienklischees, die bei ihnen ganz und gar nicht klischeehaft wirken. Sie haben mir geholfen, dazubleiben.
Ich hab nie gesagt: „Ihr habt mir das Leben gerettet."
Vielleicht sollte ich das mal.
Vielleicht sage ich es jetzt, weil ich weiß, dass H diesen Text lesen wird, weil ich sie fragen werde ob ich ihn veröffentlichen darf. Wenn ihr ihn lesen könnt, heißt es sie hat ja gesagt.
Aber ich sage es auf meine Weise. Seitdem. Jedes Mal, wenn ich ZZ Top höre.
Ob allein. Ob im Stream. Ob im Zug, auf der Straße, unter Menschen:
„ZZ Top hat mein Leben gerettet."
Ich sag's laut. Nicht, weil ich Pathos mag. Sondern weil es wahr ist.
Ich will das ZZ Top nie schreiben. Ich will sie nicht kontaktieren.
Aber ich will, dass ich es sage, bei jedem Song den von ihnen höre.
Weil es wahr ist: „ZZ Top hat mein Leben gerettet."
Text von mir eingelesen:

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