001 Die Frederik-die-Maus-Kiste wird geöffnet
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Kapitel 0: Die Mauskiste
Als Kind habe ich das Buch Frederik geliebt. Diese Maus, die nichts sammelte außer Sonnenstrahlen, Farben, Geschichten. Als der Winter kam und alle Vorräte aufgebraucht waren, hatte Frederik etwas, das alle anderen nicht hatten: Erinnerung. Trost. Wärme. Und so wurde aus Faulheit Kunst.
Ich glaube, da hat etwas in mir angefangen. Der Gedanke, dass ich auch eine Mauskiste brauche – für später, wenn ich alt bin, wenn ich vielleicht allein bin, wenn ich etwas zum Erzählen brauche und wenn ich es mir nur mir selbst erzähle. Und die Geschichten, die ich erlebe, sind dafür. Ich habe sie nicht geplant, nicht gesucht – aber sie finden mich. Manche voller Schmerz, manche voller Leben. Manche banal. Manche leuchten.
Ich sammle sie. Für später. Für mich. Für wen auch immer.
Sie werden in chronologischer Unordnung einfach so auftauchen, assoziativ wie sie in meinem Hirn und auf meinem PC gelagert sind (ja mein Ordnersystem ist auch assoziativ).
Kapitel 1: Dieser verdammte Klepper
D war mein zweiter Freund. Ein Nerd, zart gebaut, fast androgyn wirkend, mit fast weißblonden Haaren und einem unsicheren Lächeln. Nicht mein Typ, eigentlich – aber doch interessant. Ich mochte ihn. Obwohl er sich selbst für hässlich hielt, war da etwas, das mich anzog. Vielleicht seine Weltfremdheit, vielleicht seine leise Intelligenz, vielleicht sogar sein ungewöhnliches Äußeres. Vielleicht auch nur der Moment, in dem wir uns wirklich kennenlernten: An Silvester 99/00 kotzte ich nach Mitternacht in die Menschenmenge, unter anderem Dominik vor die Füße.
Etwa ein Jahr später waren wir im Urlaub, irgendwann gegen Ende unserer Beziehung. Und dieser Urlaub war... anstrengend. Ich fühlte mich wie eine allein reisende Mutter mit großem, überfordertem Kind. Er konnte nichts allein. Nichts organisieren, nichts entscheiden, nichts durchziehen. Ich war erschöpft von ihm. Genervt davon, dass er immer auf mich wartete, als wäre ich das GPS fürs Leben.
Es gab einen Laden neben dem Hotel, die boten auch Ausritte an, auf Pferden oder Kamelen, der Ladenbesitzer war sympatisch, wir tranken dort Tee mit ihm (den wir bezahlen mussten, so altruistisch war er nun auch wieder nicht). Ich wollte reiten – unbedingt. Ich liebe Pferde. Ich hatte früher ein eigenes Pony, ich war gut im Sattel, ich wusste, was ich tat. Also melden wir uns an. Der Tourleiter fragte: Wer kann reiten? Ich sagte: "Ich". Sie zeigten mir das Pferd, das ich bekommen sollte. Ein klappriger Klepper. Hirschhals, leichter Senkrücken, starke Dellen über den Augen – so sah er aus. Ich dachte, das ist ein Witz. Die wollen mich verarschen. Alle anderen hatten schicke Wallache und ich diesen Klapper-Hengst.
Aber ich weiß, wie Pferde funktionieren. Und dass Aussehen oft nichts bedeutet.
Wir ritten los. Ich war vorne. Der Guide sagte: „Du Deutschland, gib ihm." [Die Trense des Gauls hatte Deutschlandfarben] Ich trieb ihn an, er war kaum vorwärts zu bewegen. Doch als wir an der Lagune ankamen, sagte er: „Du Deutschland, galoppier." Ich war misstrauisch. Kann das Pferd überhaupt noch galoppieren? Ich gab die Galopphilfe, einen Moment zweifelnd ob diese Bewegung vielelicht etwas rein aus der englischen Reitkunst war oder wirklich auf der Anatomie des Pferdes basierte, oder international Pferden beigebracht wird...
Was dann passierte, war keine Bewegung – es war eine Explosion. Dieses Tier, das aussah wie eine schlechte Entscheidung, raste los wie eine Kanonenkugel. Ich hielt mich mit Mühe im Sattel. Ich war kurz davor, den Sattel unfreiwillig zu verlassen. Und ich war stolz auf mich, dass ich blieb.
Der Hengst war ein Berber, wie ich später erfuhr. Und er war das Beste, was ich je geritten bin. Sensibel auf die kleinste Hilfe. Wendete wie ein Tanzpartner. Rasend schnell, aber kontrollierbar. Ich war wieder ganz ich. Stark. Frei. Verbunden.
D war später sauer. Er durfte nur traben. Ich galoppierte im Kreis um die Gruppe wie ein übermütiges Mädchen aus einem Pferderoman. Ich weiß nicht, was ihn mehr störte: dass ich Spaß hatte – oder dass ich etwas besser konnte wie er.
Wir trennten uns nicht sofort. Aber innerlich war da schon Schluss. Diese wilde Freiheit war nichts für ihn und für mich war seine vorsichtige Suche nach Freiheit auch nichts. Aber wir haben uns nie verstritten, ich schätze D bis heute.
Kapitel 2: Kreide ist kein Filter
Vanni hatte mich eingeladen, ich hatte sie beim Streamen auf Joy kennengelernt und wir hatten eine Art Allianz gegen die Spießer gebildet. Ich habe furchtbare Angst vorm Zugfahren, aber ich bin trotzdem hingefahren. Fünfmal umgestiegen, einmal verfahren, total überfordert, aber ich kam an. Sechs Tage war ich bei ihr, einer von diesen Besuchen, die sich wie ein wilder Tanz zwischen Nähe, Witz, Chaos und einem ständigen inneren Alarm anfühlen. Sie ist Borderlinerin. Ich auch. Und trotzdem – oder gerade deshalb – haben wir uns angefreundet.
Am letzten Tag beschlossen wir, noch einen Stream zu machen. Vormittags. Da guckt eh kaum jemand zu, auch von den Leuten die wir kennen nicht. Das war unser Plan. Das war für uns zwei.
Wir dachten uns was aus, natürlich. Sie ist kompliziert und fast unerträglich – aber auch schwer kreativ. Wir nannten es: Dörte und Beate. Sie war Beate. Ich war Dörte. Dörte saß auf dem Sofa, las den Chat und kommentierte das Geschehen. Beate putzte. In echt. Nicht zur Show. Das Wohnzimmer war wirklich verdreckt. Und zwar nicht nur so ein bisschen.
Am Abend zuvor hatte es eine Wespenattacke gegeben. Zwanzig bis dreißig Viecher. Sie kam mit Kreidespray an. Sie hatte das mal unabsichtlich gekauft. Eigentlich ist sie Sprayerin – richtig, mit Dosen und Wänden und Bildern. Aber an dem Abend sprühte sie Wespen. Die platzen davon. Ich hatte sowas noch nie gesehen. Überall klebte es. Kreidespuren. Tote Insekten.
Und dann der Stream.
Beate (also Vanni) wischte. Wirklich. Mit Schwamm, Wasser, Muskelkraft. Und sie trug was Kurzes, zeigte etwas Bein, wackelte mit dem Hintern. Aber sie zog sich nicht aus. Es war kein Porno. Es war ein performativer Kommentar. Ein Stream über Streams.
„10.000 Herzen, dann putzt du weiter!", rief ich. Ich war Dörte. Ich saß auf dem Sofa mit überkreuzten Beinen, in rotem Push-Up und passendem Panty, aber auch bei mir fielen nicht mehr Klamotten. Kommentierte übertrieben ironisch. Nahm alles auseinander. Vor allem das Herzensystem.
Denn normalerweise gibt's Herzen, wenn du dich ausziehst. Oder es dir machst. Aber hier? Hier gab's Herzen für Hausarbeit. Für echte Arbeit. Für nasses Tuch, für schrubbende Knie, für Hände voller Wespe und Kreide. Für Arbeit die sowieso zu tun war.
„Kreide ist kein Filter", sagte ich in den Stream.
Das war ein Seitenhieb. Vanni war sonst die Filterkönigin. OBS-Overkill. Unschärfe, Farbkorrektur, Blenden, Layer, Layer, Layer. Immer zwischen Performance und Panzerung.
Aber Kreide war keine Farbe, kein Effekt. Sie ließ sich nicht rückgängig machen. Kreide tötete Wespen. Kreide war Realität.
Der Stream war seltsam. Und schön. Und irgendwie Kunst. Keine große Kunst. Aber auch kein Fake. Ein Moment, der klebte. An Händen. Am Boden. Im Gedächtnis.
Kapitel 3: Die Morini – Geschenk, Maschine, Freiheit
Ich mochte Motorräder schon immer. Bin als Kind hinten mitgefahren, bei meinen Schwestern, bei deren Freunden. Der Wind, das Dröhnen, die Vibration – das war Leben. Aber selbst fahren? Nein. Ich war nie der Mensch fürs Autofahren, schon gar nicht fürs Motorrad.
Dann kam Olli. Motorradfreak durch und durch. Alte italienische Maschinen. Schrauber. Ein bisschen verbohrt, ein bisschen süß. Wir fuhren zusammen auf Treffen. Ich war Beifahrer, Sozia, Zuschauer. Er wollte, dass ich selbst fahre – aus praktischen Gründen, Gepäck, Unabhängigkeit. Ich wollte nicht. Bis zur Laverda-Treffen.
Dort stand sie: Eine Moto Morini 3 1/2, rot-schwarz – elegant, schlank, schlicht. Ich sagte nur einen Satz, fast zu mir selbst: „Für dieses Motorrad würde ich den Führerschein machen."
Olli hörte es. Und als ich wieder nach Hause kam, (ich studierte zu der Zeit in Bingen am Rhein, wo ich unter der Woche war) stand da eine zerlegte Morini in der Garage. Seine Geste war nicht romantisch, sondern fast sachlich: „Wenn du schon fährst, dann weißt du auch, wie sie funktioniert." Wir schraubten zusammen. Und ich lernte. Und ich liebte sie. Und hasste sie. Meine Morini sprach metaphorisch dauernd quasi das Galadiel-Mainfest zu mir:
"Und nun siehst du mich, wie ich bin: eine Königin, nicht dunkel, sondern gelb und schwarz und schrecklich wie der Kupplungszug und die Zündung! Eine Herrin voller Macht, die gefürchtet und geliebt wird, besonders an den Ampeln. Statt einer dunklen Laverda würdest du eine Königin haben! Schlank, schnell, wendig — ein Feuer, das die Kurven verbrennt!"
Der Führerschein war die Hölle. Ich hasste Fahrschulen. Aber dann saß ich auf meiner Morini. Und fuhr. Und wusste: Das ist meins. Das ist ganz meins. Kein Auto, kein Bus, keine Mitfahrt – sondern ich, meine Maschine, mein Tempo, meine Entscheidung.
Sie war elf Jahre älter als ich. Und ich fuhr sie wie ein Alltagsmotorrad. Sie war kein Museumsstück, sie war meine Verbündete, eine Diva und meine Herrscherin. Auf Morini-Treffen sagten sie: „So muss eine Morini aussehen – gefahren, benutzt, geliebt." Und genau das war sie. Und genau das war ich.
Zwischenfazit: Die Frederik-die-Maus-Kiste ist so wunderbar voll mit meinen zarten 43 Jahren, dass nichts was ab heute noch geschehen könnte, mich davon abbringen kann zu sagen: "Ich hatte ein fantastisches Leben".
Aber insgeheim hoffe ich so bis 90 oder 95 weiter Geschichten sammeln zu können. Ist meine Mainquest: "Alt werden".
Achso Mainquest... zum Thema "RPG Real Life" kommen wir gleich. (oder irgendwann, das ist mir wichtig, aber noch so unfertig)

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