018 Die Brühenden

 

Ich spiele mein Leben wie ein Rollenspiel. Ich nenne es RPG Real Life. Es hat keine Speicherpunkte. Erlaubt kein Neuladen. Jede Sekunde, jede Tat, jede Äußerung zählt. Jede Aufgabe ist eine Quest. Jede Belohnung ist Loot. Auch Kaffee.
Mein (MMO) RPG Real Life auf Wattpad

Ich erkläre dieses „Spiel" ausführlicher in einem eigenen Text – allerdings mit vielen Gaming-Begriffen. Wer es lieber ohne das mag, kann gern die Audioversion hören. Beides ist im Kommentar verlinkt. Wer Fragen zu Begriffen hat, kann sie direkt hier in den Kommentaren stellen.

Ein Manifest zwischen Koffein, Selbstfürsorge und strukturiertem Ungehorsam

I. Questlog: Apotheke

Ich habe sie erledigt. Die große Quest. Nicht täglich, nicht wöchentlich – das ist eine dieser epischen Real-Life-Missions, die nur alle paar Monate auftaucht: Medikamente holen.

Die Apotheke ist nah, fünfzig Meter. Keine verschlungenen Gänge, keine Duftöle als Bosskampf. Aber: zu viele Menschen. Zu viele Stimmen. Zu viel Dichte.

Und ein Schaufenster voller homöopathischer Hoffnungsträger.

Und mittendrin: eine Apothekerin. Ausgebildet. Souverän.

Sie steht in dieser Aura aus Globuli-Verkauf und Chakren-Werbung – und reicht mir Lithium und ein Schilddrüsenmedikament. Keine esoterische Umschreibung, keine Zuckerkugeln. Klare Kommunikation. Pharmakologisch fundiert.

Ich verachte die Pharmaindustrie. Ich schätze die Pharmakologie. Und ich respektiere Menschen, die inmitten widersprüchlicher Symbole einfach ihre Arbeit machen – fachlich, menschlich, ohne Hokuspokus.

Und ich bin stolz auf mich. Weil ich trotz allem dort war. Trotz Sozialphobie, trotz Ablehnung dieser spezifischen Apotheke.

Ich habe meine Medikation geholt.

II. Belohnung eins: Der Brühcode

Kaffee ist kein Getränk. 

Ich habe meine Weekly abgeschlossen. Medikamente einsortiert. Dosette befüllt. Alles korrekt gelagert – auffindbar, überprüfbar, pragmatisch.

Belohnung: Kaffee.

Ich brühe mit Methode. Nur ein Knopf: der Einschalter des Wasserkochers. Keine Maschine. Kein Panel. Nur Filterhalter, Papierfilter, Tasse, Wasserkocher.

Minimalistisch-pragmatisch.

Bis vor etwa einem Jahr war ich Senseo.

Es war eine Phase. Jetzt wieder Filterhalter. Wie früher. Wie in der Kindheit.

III. Stilfragen sind Glaubensfragen

Ich bin ein Brühender. Das ist keine Religion.

Das ist eine Weltanschauung.

Brühen ist Wiederholung. Brühen ist Entscheidung. Brühen ist Verteidigung des Eigenen gegen den Rest.

Deine Entwickler brühen. Ich weiß das.

Dein Support brüht – zwischen Tickets und Tränen.

Deine PR-Abteilung brüht, wahrscheinlich unter Hochdruck.

Marketing brüht kreativ, Ethik brüht vorsichtig.

Sogar die, die Sicherheitsdaten und AGB-Module schreiben – auch sie brühen.

Brühende in jeder Abteilung. Das spürt man.

Jede*r Brühende entwickelt eine eigene Art, mit Temperatur, Zeit und Filterumständen umzugehen. Diese Methode wird innerlich geheiligt. Und äußerlich verteidigt.

Nicht diskutiert. Nicht relativiert.

Andere Brühmethoden werden geduldet. Höchstens.

Vollautomat? Auch Kaffee. Ja. Aber nur technisch. Nicht spirituell.

IV. Belohnung zwei: Assimilation

Und dann:

Erdbeermilch mit Erbsenmilch.

(Kuhmilch einfach so ist für mich eklig.)

An mich selbst ausgeschenkt.

Zucker, Farbstoff, künstliches Aroma – gemischt zu einem Becher Erinnerung.

Ich trinke das nicht nur wegen des Geschmacks. Ich trinke das, weil sie das auch getrunken hat.

Sie – eine Freundin von früher. Psychiatrieforum-Zeit. Wir haben uns dort kennengelernt, beide auf der Suche nach Halt. Sie mochte Erdbeermilch. Und ich wurde daran erinnert, dass ich sie als Kind auch mochte.

Ich habe ihre Nummer nicht mehr. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Aber beim Trinken ist sie da. Kurz. Klar.

Und:

Die Erdbeermilch wird in Kürze in mein System assimiliert worden sein.

Futur 2.

Weil manche Dinge nicht einfach nur passieren.

Sie werden passiert sein. Und dann abgeschlossen.

Ich bin nicht nur im Moment. Ich bin bereits im Danach des Danach.

V. Die Wahrheit des Brühens

Brühen ist keine Getränkezubereitung.

Es ist Selbstfürsorge in wiederholbarer Form.

Kaffee – leicht schädlich. Tee – nicht viel besser.

Aber das Ritual: das ist die sanfte Gewalt des Gehaltenwerdens.

Filterhalter. Wasserkocher. Zeit. Konzentration.

Die Wiederholung ist ein Rahmen.

Die Kontrolle eine Geste.

Das Gießen: ein Moment der Macht.

Ich akzeptiere die Nicht-Brühenden – aus ethischen Gründen.

Aber ich werde sie nie verstehen.

VI. Argumente für Kakao oder anderes Ungebrühtes

Ich vergesse immer die Kakaotrinker, weil ich Milch nicht mag. Ich bin kein Veganer und liebe Käse (ich habe mal eine Story über Käse geschrieben, Link im Kommentar). Aber einfach Kuhmilch mit Kaba oder so ist für mich ein Grauen.

Doch an völlig unerwarteter Stelle sprach ich letztens mit einem Kakaotrinker und fragte ihn, was es für ihn bedeutet. Er meinte: ‚Ist auch teilweise Routine. Und klar, manchmal auch Belohnung... Ruhepol oder einfach Zuhause.'

Also fast identisch mit dem, was Kaffee für mich ist – nur ohne Wachmach-Effekt.

VII. Der frühe Brühstart

Ich war fünf.
Meine Schwester S. – acht Jahre älter – hatte Kreislaufprobleme. Unsere Mutter fragte den Kinderarzt, ob Kaffee für sie okay sei. Der sagte: „Viel Milch." Vielleicht auch: „Wenig Zucker."
Also bekam S. Kaffee.

Ich bekam Karo-Kaffee. Ersatzkaffee.
Aber ich wollte den richtigen. Den echten. Den, den meine Schwester bekam.
Und ich ließ mich nicht abspeisen.

Ich war schon damals unfassbar stur.
Diese spezielle Störrigkeit – für andere oft schwer erträglich, für mich selbst schon unfassbar oft unfassbar nützlich (und seltener auch: ziemlich schädlich).
Ich ließ den Karo-Kaffee nicht gelten. Ich bestand auf das, was S. trank.

Und ich bekam ihn.
Ich bekam Kaffee. Richtigen Filterkaffee.
Milch rein und viel Zucker. Und ein Stück Eigenmacht.

Meine Mutter brühte damals klassisch:
Filterhalter, Wasserkocher, elektrische Kaffeemühle, Kanne.

Später bekehrte sie sich selbst zum Vollautomaten.
„Der mahlt ja auch frisch. Und der Kaffee ist gut", meinte sie.

Ich allerdings kehrte vor kurzem – etwa vor einem Jahr – zurück zu Filterhalter und Wasserkocher.
So was passiert unter Brühenden.

VIII. Kein Aufruf. Kein Manifest. Nur ein Zustand.

Es gibt kein Finale. Keine Bekehrung. Keine Front.

Die Brühenden sollen sich niemals vereinigen.

Sie sollen ihre Art verteidigen. Ihre Temperatur. Ihre Mengenverhältnisse.

Und innerlich wissen: Auch andere Brühen. Auf ihre Weise.

Still. Stolz. Sorgsam.

Zwei Fragen an den Leser:

Was an deiner täglichen Wiederholung gibt dir mehr als Struktur?

Wenn Brühen ein Statement ist: Was brühst du, wenn du traurig bist?




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