017 Zwischen Main Echo und 'Get On My Level'

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Jeden Morgen lag das Main Echo auf dem Tisch. Nicht irgendeine Zeitung, sondern unsere lokale. Die, die in unserem Haushalt gelesen wurde, ganz selbstverständlich. Ich habe sie gelesen. Nicht, weil man es mir beigebracht hat, nicht, weil mir jemand gesagt hat, wie wichtig das sei. Sie war einfach da. Und ich habe sie gelesen, weil ich es wollte, aber nicht den Lokalteil. Den bekam meine Mutter. Sie las Feuerwehrfeste, Todesanzeigen, Vereinsnachrichten und erst danach die anderen Teile.
Ich las:

- Politik (vor allem Bundespolitik)

- „Aus aller Welt" (inkl. Promi-Meldungen, man will ja auch in der Schule mitreden)

- Karikatur (meist auf Seite 2)

- Kommentarspalten, wenn es passte

Franken und Bayern kamen in meinem Main Echo Konsum kaum vor – und wenn, dann war Bayern meistens Grund für kollektive Familien-Wut. Typischer fränkischer Affekt: „Diese Bayern wieder." (ich bin halt auch nicht frei von Vorurteilen)

Abends dann die Tagesschau. Punkt 20 Uhr. Für viele war das ein Ritual, fast eine Zwangshandlung. Für mich war es ein Privileg. Eines der ganz wenigen in meiner Kindheit. Ich durfte die Tagesschau sehen. Ich durfte sitzen bleiben, durfte zuhören, durfte mitdenken.

Es war nicht so, dass jemand gefragt hätte, ob ich dabei bin. Hätte ich gespielt, hätte ich gefehlt – es hätte keiner gemerkt. Aber ich bin geblieben. Ich habe sie gesehen, fast jeden Abend, und es war die Grundlage zum Mitreden, manchmal sogar noch Heute-Journal obendrauf. Main Echo und der ÖRR, das war mein Diskussionsrüstzeug.

Das war mein Zugang zur Welt. Eine Tageszeitung am Morgen, die Nachrichten am Abend. Dazwischen Schule, Familie, Alltag – aber dieser Einstieg und dieser Ausstieg aus dem Tag waren etwas Besonderes. Sie gaben mir das Gefühl, teilzuhaben.

Damals habe ich noch nicht gedacht, dass das Bildung ist. Aber heute weiß ich: Das war der Anfang meiner politischen Bildung. Und zwar nicht nur durch Eltern, Lehrer oder Schule, sondern weil ich Zugang hatte. Weil ich durfte.

Viele andere Kinder durften das nicht. Sie wurden ins Bett geschickt, wenn die Nachrichten kamen, um sie zu schützen, oder sich selbst vor dem „Erklären müssen", oder sie hatten gar keine Zeitung zu Hause. Ich habe später begriffen: Ich hatte ein Privileg. Kein großes, kein lautes. Aber ein entscheidendes.

Und dann kam irgendwann der Moment, wo ich mich fragte: Warum wissen andere Leute manche Dinge nicht? Warum haben sie so eine andere Haltung, eine andere Sprache, andere Schwerpunkte?

Ich war jung und irgendwie auf eine bescheuerte Art zu gebildet für meine Herkunft (ich mach noch nen Eintrag zu der allgemeinen Lesebesessenheit meiner Familie) und in der jugendlichen Überheblichkeit hielt ich anders gebildet sein eine kurze Zeitlang für Dummheit, aber ich bin krankhaft neugierig, deswegen fragte ich und hörte zu, bei Menschen die anders als ich waren. (Profi-Tipp, Leute: Tut das, tut das oft!)

Es gibt so viele Wege sich zu bilden für seinen eigenen Kampf ein guter Mensch zu sein. Vielleicht Glauben, Theologie und Philosophie, vielleicht Humanismus, vielleicht Rechtswissenschaften und das Grundgesetz, vielleicht Pädagogik und Entwicklungspsychologie. Vielleicht war da TikTok. Vielleicht YouTube. Oder ein Discord. Oder Twitch. Oder die Clique und deren Wissen und Handeln. Oder ein Vorbild, oder ein „schlechtes" Vorbild.

Zum Beispiel: Monte. Montana Black. YouTuber. Streamer.

Nicht als jemand, den ich mochte. Ganz im Gegenteil. Ich fand ihn unerträglich. Wie er redet, wie er sich gibt – alles an ihm ging mir auf die Nerven.

Aber dann sagt er: „Get on my level."

Und ich bleibe hängen. Nicht, weil ich ihm zustimme. Sondern weil in diesem Werbeslogan von ihm was mitschwingt:

Er könnte meinen: Du weißt nicht, woher ich komme. Du weißt nicht, was ich erlebt habe. Urteile nicht über mich, wenn du mein Leben nicht gelebt hast und das stimmt. Ich weiß es nicht. Ich kann es auch nicht wissen.

Ich habe dann an Tiersch gedacht an die Theorie der Lebensweltorientierung. Daran, dass man die Welt eines anderen Menschen nicht von außen bewerten kann. Daran dass wir alle Welten sind, nicht mal nur Geschichten, ganze Welten. Jeder Mensch eine eigene.

Ich kann Monte nicht verstehen. Nicht wirklich. Ich kann ihn ablehnen. Aber ich kann nicht behaupten, ich wüsste, was seine Lebenswelt bedeutet.

Ich wollte dann ein Projekt starten. Stimmen sammeln. Lebenswelten zeigen. Get on my level – als Titel, als Reihe, als Versuch, anderen eine Bühne zu geben.

Und ich habe gemerkt: Es geht nicht so einfach, auch nicht mit ChatGPT an der Seite. Man kann andere Lebenswelten nicht einfach darstellen. Man kann sie nicht für andere konsumierbar machen, ohne dass dabei etwas verloren geht.

Das Projekt ist gescheitert, aber der Gedanke bleibt.

Ich bin durch Zeitung und Nachrichten gebildet worden, durch Romane, durch wissenschaftliche Theorien, durch LehrerInnen, durch ProfessorInnen, durch die „ganz normalen" Menschen um mich herum, andere durch ganz andere Dinge.

Und ich will nicht sagen, was richtig oder falsch ist. Ich will sagen: Ich habe meinen Weg. Andere haben ihren. Und ich will lernen, sie anzuerkennen.

Nicht zu bewerten. Nur anzuerkennen.

But I am already on that way.

And you?

If not:

„Get on my level."



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