010 - Musik, die bleibt
Jeder Mensch, der mir wichtig war, hat Spuren bei mir hinterlassen – keine Briefe, keine Geschenke. Musik. Ein Lied, ein Album, eine Stimme, ein Beat. Etwas, das in meinem Kopf geblieben ist, wenn der Mensch längst verschwunden war. Manchmal habe ich einen Song von jemandem bekommen, den ich geliebt habe. Manchmal war es ein Lied, das wir zusammen gehört haben, wieder und wieder, bis es in mir wohnte. Und manchmal war es ein Song, der einfach in der Luft hing, genau in einem Moment, der nie mehr zurückkommt.
Ich sammle keine Fotos von Menschen. Ich sammle Takte.
Radioactive – das Lied zieht mich jedes Mal wieder rein. Das war SH. Der hat mir Imagine Dragons gezeigt, obwohl er selbst keine Musik mochte. Der einzige Mensch, den ich je kennengelernt habe, der keine Musik mochte. Er war mir nie richtig geheuer. Heute würde ich sagen: ein Warnzeichen. Aber dieses eine Album – das blieb. Und „On Top of the World", das ironischerweise in meinem Kopf immer gekoppelt ist mit einem ganz anderen Bild: diese Szene aus Die Bücherdiebin, wo sie auf dem Leichenberg stehen und sagen, es ist ein schöner Tag. Ich konnte drei Stunden nicht weiterlesen, weil der Horror nicht die Leichen waren, sondern das Bekenntnis sie nicht zu sehen.
Ich höre Musik nie nebenbei. Ich höre sie wie andere Leute Schmerzmittel nehmen. Geplant. Dosiert. Ich habe Playlists, die nur für ganz bestimmte Zustände da sind. Skills aus der Verhaltenstherapie. Ich weiß genau, was ich wann höre. Und manchmal geht's mir dann so gut dabei, dass es fast gefährlich wird. Ich kann mich manisch hören, von Track zu Track treiben, hoch in ein künstliches Hochgefühl, das zwei Stunden später komplett abstürzt. Aber das macht nichts. Ich kann das. Ich kann mich steuern. Meistens.
Früher war das nicht Musik, sondern Fantasie. Ich war elf, zwölf vielleicht. Mit meiner Schwester auf der Winterkoppel, Silo-Reifen stapeln, eiskalt, nass, es hat geregnet. Die Dinger waren schwer und stanken nach faulendem Wasser und Gras. Und ich stand da, in Gummistiefeln, komplett durchgeweicht, unser Vater irgendwo mit dem Traktor beschäftigt, und es war klar: Wir stehen hier noch. Lange. Ich hab in die Wolken geguckt, in den grauen, niedrigen Himmel, und gedacht: Ich kann jetzt einfach nicht mehr hier sein. Ich kann jetzt einfach in Phantásien sein. Und das war ich dann auch.
Das war der Moment, in dem ich gelernt habe, wie man sich ausblendet. Wie man sich raus zieht, ohne einen Schritt zu tun. Das ist nie wieder ganz weggegangen. Ich bin oft nicht da, wo mein Körper gerade ist. Wenn's zu schlimm wird, schalte ich um. Geschichten. Musik. Gedanken. Ich verschwinde – aber nicht, weil ich aufhöre zu existieren. Sondern weil ich entscheide, dass ich mir selbst Gehör. Kein Mensch, kein Raum, keine Klinik kann mich einsperren, solange mein Kopf noch funktioniert.
Vielleicht ist das das größte Geschenk, das ich aus dieser Zeit mitgenommen habe: die unkaputtbare Vorstellungskraft. Die Fähigkeit, jederzeit einen Ausgang zu haben. Und wenn es nur drei Minuten lang ist – ein Lied lang – dann reicht das oft schon.
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